Schneckensaft
Text in Das Narr, das narrativistische Literaturmagazin, #35, Stolperstrasse, 2022
Lesung 19. November 2022
Vernissage an der BuchBasel, Buchhandlung Müller Palermo
gemeinsam mit Shpresa Jashari, Fabio Kilcher, Rebekka Salm
Schneckensaft
Die Schaukel ist noch da.
Seit dem Unfall klebt Julia Bilder.
Sie soll ihre Hände beschäftigen. Die Therapeutin in der nahen Kleinstadt hat ihr dazu geraten. Nichts denken.
Das Ausschneiden der Formen saugt alles weg. Amöbenförmige, farbenfrohe Gebilde.
Sie hätte wegziehen können.
Aber da ist der Garten. Rafalea sagt, der Garten bleibt.
Und Tesla. Da ist Tesla. Alle nennen ihn so. Eigentlich heisst er Stephan.
Wenn sie mit der einen Hand die Haare der Kundin hochstreicht, mit der anderen an den Strähnen zwischen ihren Fingern schnipselt, denkt Julia.
Wenn sie Salatsetzlinge auspflanzt, wenn sie nach dem Regen das Unkraut zwischen den Kosmeen und den Ringelblumen aus der Erde zupft, denkt Julia.
An das was war.
An das was nie mehr sein wird.
Wie Ströme bei Hochwasser fliessen die Bilder. Strudel, Äste, Kiesel.
Julia und Milan Frey. Neben dem Klingelschild hängt die Schildkröte aus Draht und Bast, Milan schwenkte sie hin und her, als Julia ihn abholte. Das war in ihrem ersten Jahr im Dorf. Bei Wind schlägt sie gegen die Hausmauer.
Milan fliegt und Julia ist der Sommer.
Juliii, sagte Milan.
Nicht denken.
Die Zahlen auf dem weissen Papier mit dem Stempel der Praxis bezeichnen einen Zeitraum von drei Wochen, fürs erste, sagt der Arzt, der Julia krankschreibt. Im November schneidet Julia im Salon Flair wieder Haare. Bei den Kundinnen mit wenig Geld, den Studentinnen und kleinen Angestellte, sind Julias Kurzhaarschnitte beliebt. Weil sie lange in der Form blieben. Endlich tragen die jungen Frauen wieder Kurzhaarschnitte, sagt die Chefin jedesmal. Manche sind verärgert, andere fragen. Eine langwierige Infektion, die Chefin bleibt vage, auch den anderen Angestellten gegenüber. Sie bietet Julia an, erst im neuen Jahr wiederzukommen. Sie weiss, was geschehen ist.
Der Salon liegt an der Hauptstrasse der Kleinstadt, zwischen einem leerstehenden, ehemaligen Schuhgschäft und einem Beratungsbüro für Steuerfragen. Gegenüber ist die Praxis der Therapeutin. Einmal die Woche, nach der Arbeit, steigt Julia die enge Treppe in den vierten Stock hinauf und klingelt, den Blick hält sie auf die glänzend gewachsten Holzdielen gerichtet.
Rafaela hat die Adresse auf den kleinen weissen Block in der Diele notiert, ein Name, eine Telefonnummer, ein Strasse und eine Hausnummer. Mit dem frisch gespitzen Farbstift, der auf dem hellen Holzmöbel liegt, seither dort liegt, unter den angepinnten Fotos, dem Kalender, neben der kleinen Schiefertafel für Nachrichten. Der dunkelblaue Farbsitft.
Nach Weihnachten hat Rafaela die erste Sitzung für Julia vereinbart. Ich fahre dich hin, behaart sie, und malt einen Kreis um eine Zahl im Kalender.
Sie soll ihre Hände mit etwas Ungewohntem beschäftigen, sagt die Therapeutin, als sie sie zur Tür begeleitet, etwas das ihre Gedanken bindet.
Weggebissen die hellgrünen Herzen, weggeknabbert.
An Julias Zehen bleiben feuchte Klümpchen kleben, als sie am frühen Morgen, noch vor der Arbeit, auf den schmalen Streifen zwischen den Beeten über die Erde geht. Wassertropfen haften an den Blättern, wie Perlen. Lösen sich im Zeitlupentempo und fallen von der Linde, den Rosenblüten. Die ganze Nacht lauschte Julia dem Regen. Ein weicher Frühsommerregen, den Julia jetzt riecht, überall im Garten.
In ihrem ersten Jahr im Dorf hat Julia die Schnecken eingesammelt und zum Bach getragen. Rafaela riet ihr Bierfallen aufzustellen, ein Jahr später streute Julia grüne, giftige Körner. Bei Regen kriechen die Schnecken unter den Gebüschen hervor, über die Erde. Braun und schleimig. Und fressen die Setzlinge.
An diesem Morgen im April schneidet Julia im Salatbeet fünf Schnecken entzwei. Mit der Gartenschere. Dunkler Saft quillt aus den halbierten Körpern.
Julia ist überrascht, wie wenig sie sich ekelt.
Im Herbst schneidet Julia die Rosen, die an der Hauswand ranken, den Birnbaum, die Himbeersträucher.
Im Sommer schneidet sie Kosmeen, Lilien, Löwenmäulchen. Im Dorf bewundern sie ihren wilden, verschwenderischen Blumengarten. Vom Wohnzimmer aus beobachtet Julia, wie die Leute stehen bleiben, auf ihren Spaziergängen, an lauen Abenden und am Sonntag, die Arme ausstrecken, mit den Fingern zeigen.
Im Frühling schneidet Julia Tulpen, Osterglocken.
Sie stellt sie in Vasen, im Salon Flair, in ihrer Küche.
Und bringt sie Rafaela.
Durch das Blattwerk der Holunderbüsche sieht Julia das Licht in Rafaelas Arbeitszimmer.
In ihrem Garten schneidet Rafaela nur das Nötigste zurück. Um den Rasen zu mähen, lässt sie einen Gärtner kommen. Bevor du hierhergezogen bist, sagt sie, zog ich bis weit in den Herbst hinein Blumen.
Julia hilft ihr, das Dickicht daran zu hindern, undruchdringlich zu werden.
Das Unkontrollierte entspricht mir mehr, rechtfertigt sich Rafaela, es inspiriert mich.
Seit Julia die Schnecken halbiert, denkt sie an Schnecken, wenn sie die Bilder klebt.
Auf dem grünen Gartentisch liegt ein weisses A4-Blatt und die Schachtel mit den Farbpapieren. In der Hand hält sie die Schere.
Und denkt an das langsame Ausfliessen. Wie Lava, wie Bechamel.
Die Dämonen kommen nachts.
Der Therapeutin erzählt Julia nichts davon.
Kleine Drachen mit gebleckten Gebissen.
Im Traum versucht Julia sie zu zerschneiden. Manchmal gelingt es ihr. Dann wird der Traum hell und leuchtend und alles öffnet sich. Manchmal sind die Drachen furchterregende Echsen mit wilden Mustern.
Julia denkt jetzt auch an ihre Dämonen, wenn sie die Bilder klebt.
Tesla legt ihr Schalen mit gekochtem Reis und Gemüse vor die Tür.
Sie weiss, dass er es ist.
Sie schaut ihm nicht in die Augen, wenn sie ihm auf der Strasse begegnet.
Er ist jung und kommt von weit weg.
Julia hat keinen Platz für seine Geschichte.
Mit dem Haare schneiden bei sich zuhause hat sie aufgehört. Julia will keine Menschen mehr im Haus. Rafalea ist die einzige, die sie ins Haus lässt. Wenn Julia in der Küche an der Spüle steht, sieht sie wie sich Rafaelas mächtige Gestalt durch die Lücke im Gebüsch zwischen ihren Gärten drängt. Ihr langer Zopf wippt hin und her.
Rafaela klopft ans Küchenfenster und wartet, fast jeden Abend. An Regentagen dauert es lange bis Julia öffnet.
Rafalea zeigt ihr auf dem Handy Fotos ihrer neusten Arbeiten. Töpfe, Vasen, Tassen. Sie schaltet das Radio auf dem Buffet in Julias Küche aus. Keine Nachrichten, sagt sie, das haben wir abgemacht.
Von der Schaukel blättert die gelbe Farbe.
Darunter ist das Metall rostig.
Tesla kam nur einmal. An einem Freitag, wenn Julia den Leuten aus dem Dorf die Haare schnitt. Die Frauen und ein paar Männer meldeten sich per Doodle an und bezahlten bar. Danke und bis zum nächsten Mal, Frau Frey, sagten sie. Mit einigen tauschte Julia, frischen Most und Äpfel oder Handwerksarbeiten.
Tesla brachte Gemüse.
Sein krauses Haar machte ihr zuerst ein wenig Angst. Dann war es weniger schwarz und fest und steif, als sie es sich vorgestellt hatte.
Gemüse könnten sie immer brauchen, sagte Julia. Sie will Teslas Haar langziehen, schneiden. Die krausen Locken mit Festiger einreiben und kürzer schneiden.
Dann, im Oktober der Unfall.
Im Herbst schneidet Julia Dahlien.
Die leuchtenden Blütenkugeln zerschneiden ihr das Herz. Jedes Jahr weniger. Das explodierende Pink, das zitrusgiftige Gelb, das schmerzlich dunkle Rot.