Ilia Vasella

Häschs nöd grösser, Artikel

Wir brauchten keine Alternative. Die dunkle, nach kaltem Rauch und verschüttetem Alkohol riechende Halle, der schmale Schlot aus rotem Backstein, die mit alten Teppichen vollgepflasterten Übungsräume. Der Blick übers Wasser, an den riesenhaften Mammutbäumen vorbei, nach Zollikon, ins Seefeld, von wo die Anwohner die Polizei riefen, wenn der Wind die Klänge der Seebühne, den Puls der ausufernden Partys über die Wasserfläche trug. Die Rote Fabrik war die Alternative. Das AJZ, Xenix, Provitreff, Kanzlei. Wir hatten genug damit zu tun, den Alternativen Form zu geben, sie mit turmhohen Marshallverstärkern zu füllen, mit Basisdemokratie und durchtanzten Nächten.

Was ist anders, wenn mein Sohn 2020 sein eigenes Bier braut und im WG-Plenum Entscheidungen trifft, im Schlafzimmer Velos repariert und damit als Critical Mass durch die Stadt fährt.

Alles, was dieses Jahr gefeiert, ans Licht gerupft, noch einmal festgeschrieben wird. Das ist anders. 1980. Meine Jugend war Teil einer kleinen, lokalen Revolution. Und jetzt wird s’Achzgi 40gi. 30 Jahre Kino Xenix, 30 Jahre Videoladen, 40 Jahre Rote Fabrik, 50 Jahre F+F. Ich brauche diese Jubiläen nicht, sie binden Energie und machen alt. Das Vergangene hervorzerren, und sich in seinem Scheinwerfer um die eigene Achse drehen. Sie langweilen mich, die Jubiläen, es sei denn sie helfen Fragen zu stellen, ob wir dieses Gastro- und Eventparadies so wirklich wollen, zum Beispiel. Anstatt gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass «wir» die Initialzündung waren für Zürichs heutige Ausstrahlung.
Mein Jugendjahrzehnt wird Geschichte. Leuchtpult und Reisschiene, die Methoden, wie wir Plakate, die Fabrikzeitung machten, Repromaster, Filme und Folien und von Hand ausgeschnittene Buchstaben, für meine Studierenden ist das nur historisch und null Referenz.
Noch befremdlicher ist die Erkenntnis, dass diese Geschichte nicht so kanonisiert wird, wie ich sie erlebt habe. Nicht, weil ich mich in «Heute und danach» nicht wiederfinde, sondern in ein Album blicke, in dem irgendwie alles verrutscht ist. Musiker_innen, die ich als einflussreich betrachtet hatte, werden zu Randerscheinungen, andere bekommen eine Wichtigkeit, die sie aus meiner Sicht nie gehabt haben. Weil öffentlich erinnern darf, wer etwas geworden ist, es zu etwas gebracht hat, in den 40 Jahren. Geschichte schreiben die, die sich artikulieren können, gewohnt sind zu sprechen, als Musikerin, Journalist, Historikerin. So webe ich gebauchpinselt mit an der Versteinerung einer Geschichte, die – wie jede andere – mehrstimmig und widersprüchlich ist.

Häschs nöd grösser?

Fabrikzeitung Oktober 2020
Alternativen zur Alternative
 
Es war eine der Forderungen der 80er Bewegung an die Stadtzürcher Politik: «Lasst uns die Rote Fabrik». Und die Stadt liess ihnen die Rote Fabrik. Seither sind vierzig Jahre vergangen, in denen die
Rote Fabrik ihre Rolle als gesellschaftliche und kulturelle Alternative wahrgenommen hat. Und dennoch, «Lasst uns die Rote Fabrik» forderten in den vergangenen vierzig Jahren, wenn auch im übertragenen Sinn, immer wieder neue Gruppierungen. Die Frage nach ihrer Identität, was die Rote Fabrik ist, und was sie sein soll, war bereits in den ersten Jahren ein oft diskutiertes Thema und ist es bis heute geblieben. 

Und wozu dient die Erinnerungsarbeit in Bezug auf das Zürcher 80gi eigentlich? Dem Nicht-Vergessen? Dem Heldenmythos einer Revolte? Der Sicherung eines gebührenden Platzes in der gesellschaftspolitischen Geschichte der Stadt? Weil man das einfach so macht, wenn man einen runden Geburtstag hat?
«Zur Reaktivierung dieses gemeinsamen Gedächtnisses leisten Medien, Politik, Museen und Jahrestage ihren Beitrag. Eine Gruppe schafft sich auf diese Weise ein gemeinsames Gedächtnis, das das kollektive Selbstbild in der Vergangenheit verankert und Orientierung für die Zukunft ermöglicht» schreibt Aleida Assmann in «Formen des Vergessens»

Der See. Im Sommer im Winter, der See. Eine Saison lang betrieb der Ziegel die Bar vor der Segelschule. Die Männer legten uns ihre Penisse auf die Theke, Nacktbaden. Und wir machten spöttische Sprüche, Frauenpower. Auch den baren Brüsten blickten wir in die Augen. Es fühlte sich an wie eine Alternative und roch nach viel, viel Freiheit. In manchen Augen-blicken überholte die Realität die Utopie. Es war grossartig. Auf derselben Bühne stehen wie die Au Pairs, Jeffrey Lee Pierce, wie Living Colour und Fred Frith. Sich das Recht nehmen, in Ruhe die Zigarette fertig zu rauchen, wenn sich ein Gast im beinahe leeren Ziegel an einen Tisch setzt. Die endlosen Sitzungen in AGs, der Betriebsgruppe, die VVs und Mitgliederversammlungen. Der durchgedrehte Francis, sein wohlsortiertes Schlafzimmer vor den Übungsräumen, der am Boden ausgebreitete Schlafsack, daneben milimetergenau ausgelegt seine Zahnbürste, Schuhe, eine gefaltete Hose. Sein Geruch, der uns entgegenschlug, kaum hatte ich die schwere Metalltür geöffnet. Manchmal bat er um etwas Münz, wenn wir ihm in den Gängen begegneten, erstaunlich klar kamen die Sätze, verglichen mit den wilden Wortkaskaden, an die wir gewohnt waren. Einmal wog Francis die 20- und 50-Rappen Stücke, die ich ihm in die Hand geleert hatte, argwöhnisch in der Hand und fragte: Häschs nöd grösser? Eine Alternative zu erlernten und ausgehöhlten Regeln. Eine Alternative zu einer Stadt, die mich nicht meinte, mir kaum Lücken bot, zwischen dem schleimigen Lateinlehrer am Mädchengymi und den mobilen Discos in Turnhallen und Gemeindesälen. Ohne 1980 hätte ich die Lücke möglicherweise gar nicht bemerkt? Eine Alternative zu den zwei einzigen Lokalen in Zürich, die an Wochenenden bis 2 Uhr geöffnet waren, eine Wahl zwischen grölenden, uns anstarrenden Männergruppen im Johanniter und der schicken, teuren Helvti am Stauffacher. Das Floss, mit Blick auf die Berge. Das Gebüsch, in dem sich Spanner versteckten. Die Skins, die Konzerte überfielen, mit ihren Glatzköpfen und Kampfstiefeln. Tagsüber, im Mittagslicht, nachts. Der See.

Müsste ein solcher Ort nicht so gebaut sein, dass er weitersprudelt? Ich bin nicht mehr oft zu Gast in der roten Fabrik, das pralle Leben scheint mir dort aber nicht stattzufinden. Müsste es das? Wenn ich den Veranstaltungskalender studiere, erinnere ich mich, dass ich im Fabrikvideo einen Kurs besuchen wollte, vor 25 Jahren. Fabrikjazz. Zischtiigmusig. Film am See. Könnten zeitliche Beschränkungen, von Jobs zum Beispiel und Raummieten – wie es zumindest bei den Künstlerateliers heute praktiziert wird – Erneuerung garantieren, Verkrustung verunmöglichen?

Das Sofa und das grosszügige Wohnzimmer in einer befreundeten WG, am Stadtrand gelegen, die WG frisch eingezogen, dieses Sofa war für mich der Beweis, dass wir versagt hatten. Nicht standhielten, korrumpiert von Wohlstand und Privilegien. Der Inbegriff bürgerlicher Normen, ein neues, dunkelblaues Sofa.

Kürzlich schrieb in der Fabrikzeitung Anja Nora Schulthess am Beispiel von Fredi Meier alias Herrn Müller, dass die 60-Jährigen 80er-Bewegten die eigentlich Coolen, Innovativen wären. (Auch Frauen?) Wie beschämend das sei für eine Dreissigjährige. Und ja, manchmal komme ich mir unkonventioneller vor, als meine 20, 30, bald 40 Jahre jüngeren Studentinnen. Das ist auch befremdlich. Zwanzig Augenpaare starren mich entgeistert an, wenn ich Studierende dazu anhalte, Schriften bei den gesichtslosen Unternehmen zu klauen, wenn schon, sicher nicht bei lokalen Schriftgestalterinnen. Sie würden ja auch im Coop klauen, wenn schon, und nicht im Bioladen.

Und natürlich hätte es weiter gehen können, hätten wir, hätte ich weiter gehen können, viel weiter. Ich hätte gern eine kollektive Familie gelebt. Mehrere Kinder mit mehreren Eltern. Gleichberechtigt in alle Richtungen. Hätte mir gewünscht, dass meine Freundin als Transfrau zumindest an der Bar in der grossen Halle mit den Sheddächern wie eine Heldin befragt, mit bewundernden Blicken bedient wird. Dass wir Gleichstellung in Turbogeschwindigkeit umsetzen. Aber nie, nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich reihenweise Herren in der Midlife Crisis zusehen werde, wie sie ihre gleichaltrigen Partnerinnen verlassen, um sich mit sichtbar jüngeren Frauen zu paaren. Und nie mir vorstellen können, dass ein Recht auf Abtreibung wieder diskutiert wird. Ich habe damals auch behauptet, dass ich niemals mit einem Computer arbeiten werde. Und wir waren überzeugt, dass es die AHV nicht mehr geben wird, wenn wir in die 60er kommen.

Die Ausnahme, die Ausnahmegeneration sind wir, hat mich eine Freundin vor Jahren aufmerksam gemacht. Die Herausgefallenen, aus der Norm. Nicht die anderen. Meine kleinräumige Welt und wir in ihrem Zentrum hat sich einmal kurz und nachhaltig umgedreht.

Und wer ist «wir»? Eine wogende Menge, die mich trug. Ein derart überwältigendes Gefühl von gemeinsamem Aufbruch kann nicht «ich» heissen. Ein kurzlebiges, flammendes Wir. Die Grabenkämpfe habe ich vergessen, die Misstöne, die Zersplitterung. Orte wie die Rote Fabrik haben mich in sehr kurzer Zeit politisiert, kollektiviert und in eine formbare Welt katapultiert. Es war berauschend. Und produzierte Ausschluss, rücksichtslos, unbewusst und selbstgerecht. Wer ein fabrikneues Rennrad mit ins Zimmer nahm war suspekt, wer mit einem Journalisten sprach, sich vom falschen Logo sponsoren liess. Wer Kinder bekam, wurde im Alltag sich selbst überlassen, eine glaubwürdige Feministin hatte lesbische Affären vorzuweisen. Die Männer, die ihre Hoden zu Verhütungszwecken in heissem Sand badeten, belächelten wir. Und trugen unseren Nonkonformismus zur Schau, indem wir die Haare bleichten und Autopneus schlitzten.

Meine Mutter interessierte sich neugierig und ernsthaft für die selbstverwalteten Orte, an denen ihre Töchter in Mikrofone krächzten, in zerrissenen Ballkleidern vor Publikum traten oder einfach nur lernten ein Verstärkerkabel fachgerecht zusammenzurollen. Ihr Auftauchen war mir peinlich. Heute tritt der Mitbewohner meines Sohnes mit seinem Vater im Moods auf und die versammelte WG, inklusive Eltern sitzt in der vordersten Reihe. Während ich krampfhaft überlege, ob ich in der WG unangemeldet läuten soll, wenn ich in der Nähe bin, bietet mir mein Sohn lächelnd ein Bier an und ein Mitbewohner führt mir den neuen Staubsauger vor. Ganz selbstverständlich leben unsere Kinder in einer Wohngemeinschaft, retten Demeter-Gemüse und tragen Kleider vom Caritas. Sie setzen sich bequem ins Helsinki, den Ziegel und auf die Josefswiese, und wenn wir danebensitzen stört sie das nicht im Geringsten. Sie schauen uns in die Augen, fragen, wie es uns geht und diskutieren entspannt über ihre Drogen- und Ausgehgewohnheiten. Nur wenn ich einen Satz mit «In den 80er Jahren» anfange, verdreht mein Sohn die Augen und ergänzt, «und gäll, i dä Kunschti».

Heute brauche ich Alternativen. Grosse, weitreichende. System change. Offene Grenzen. Subito. Und ein Treffpunkt wäre schön. Für uns Erbinnen, Immobilenmakler, Hausbesitzerinnen, Sozialempfänger, Stadträte, Taxifahrerinnen, Aktivistinnen. In allen Fällen jedoch bereits oder in Kürze: AHV-Bezügerinnen. Schwatzen, schimpfen, diskutieren. Radikal altersmilde. Lieder spielen, vorlesen, auflegen. Mehr tanzen. Zentral gelegen, keine Treppen, darf um 23 Uhr schliessen. Wer Ergänzungsleistungen bezieht, wird von den anderen eingeladen. Immer. Und wer klönt, fliegt raus. Da wir nicht mehr so viel trinken, früh müde sind und das Essen zuhause besser ist, müsste die Bar vermutlich gesponsort werden, subventioniert. Damit können wir umgehen. Und eine zeitliche Beschränkung ist überflüssig, denn das Sterben ist in Reichweite gerückt.

Ich werde ganz gern älter und erinnere mich. Als «wir» oder als «ich», ohne Wehmut, auch an die zwei Jahrzehnte in der Roten Fabrik, den illegalen Kellerbars, der Wohlgroth, die mir ermöglichten mich auszutoben, an die Ränder zu denken. Es soll sich nur verändern dürfen, das Erinnern, verschieden sein, zweifelhaft und kurvig. Wird die Klimajugend Jubiläum feiern? Woran wird sich Freiheit für meinen Sohn festmachen?

Photocredits

Rote Fabrik: Hans X. Hagen
Party: Gertrud Vogler